Von Dietholf Zerweck
Ziemlich genau in der Mitte der „Matthäus-Passion” von Johann Sebastian Bach, zwischen der Anklage vor den Hohepriestern und dem Prozess vor Pilatus, singt die Altistin ihre „Erbarme dich”-Arie: nicht nur wegen ihrer ergreifenden, in einem unversiegbaren Melodiestrom gefassten Klage ist sie ein Höhepunkt dieses an berührenden und überwältigenden Momenten reichen Sakralwerkes.
Gerade hat der Erzähler den Verrat von Petrus und sein darauf folgendes „Und weinete bitterlich” mit höchster Emphase zum Ausdruck gebracht, unmittelbar reagiert die Gemeinde im Choral auf die emotionale Erschütterung der Arie mit Herz und Verstand:
„Ich verleugne nicht die Schuld;
Aber deine Gnad und Huld
Ist viel größer als die Sünde,
Die ich stets in mir befinde.”
Die so kontrastreichen und sich gegenseitig ergänzenden Positionen von Evangelist, Chorälen, Volkschören, Rezitativen und Arien in eine überzeugende musikalische Gesamtarchitektur zu integrieren, ist bei jeder Aufführung der „Matthäus-Passion” eine Herausforderung.
Eindrucksvolle Wiedergabe
Am Karfreitag in der gut besuchten Stadtkirche gelang Stephan Leuthold mit dem Ludwigsburger Motettenchor, dem Ensemble Capella Principale um den Lautenisten Thorsten Bleich und einem ausdrucksstarken Solistenquintett eine eindrucksvolle Wiedergabe.
Schon im Eingangschor, überstrahlt von den jungen Stimmen der Gesangsklassen 6 und 7 des Goethegymnasiums, war der epische Atem spürbar, mit dem Leuthold bei seiner Wiedergabe der „Matthäus-Passion” zu Werke ging. Zu dem sehr kultiviert und mühelos weich artikulierenden Chor stand das in historischer Spielweise musizierende Orchester in einem Spannungsverhältnis. Barocke Traversflöten und Oboen, letztere leider nicht immer sauber intonierend, vibratolose Streicher und die klangvolle Continuogruppe um Thorsten Bleich erzeugten einen kräftig farbigen Instrumentalklang.
Gegenüber den besonders von der Altistin Margot Hauser und dem Bassisten Manfred Bittner außerordentlich textnah und sinntief mit subjektiven Ausdruck gestalteten Arien wirkten die Choräle wie ein kunstvoller, überpersönlicher Gemeindegesang. Nur beim zweistrophigen „O Haupt voll Blut und Wunden” gestattete Leuthold dem Motettenchor eine leichte Veränderung von Tempo und Artikulation.
Aufgestachelte Emotionen
Ganz anders die Tuba-Chöre, in denen die aufgestachelten Emotionen der Menge hervorragend pointiert waren. Einige Arien-Tempi schienen überzogen: Das „Ich will dir mein Herze schenken” der mit klarer Linie gestaltenden Sopranistin Fanie Antonelou schnurrte so durch, die Bassarie „Gebt mir meinen Jesum wieder” schäumte nur noch in erregten Koloraturen.
Wunderbar spannungsreich zwischen epischer Erzählhaltung und dramatischer Vergegenwärtigung erlebte der Tenor Henning Klocke seine Evangelistenpartie, während Volker Spiegel die Jesusworte mit gut ausgebildetem Bass, aber ohne viel Textgefühl deklamierte.
Dass die fast dreieinhalbstündige Aufführung die Zuhörer bis zum Schluss in ihren Bann zog, bewies der starke Applaus für alle Beteiligten.
(aus: Ludwigsburger Kreiszeitung vom 26.04.2011, Seite 8)